Print Artikel: Xaver von Cranach 27. Januar 2021
Im Harz wurde ein altes Schulungszentrum in ein hippes Hotel verwandelt. Unser Autor fühlt sich vor lauter improvisiertem Chic wie in einer Luxus-WG.
Die süddeutsche Arroganz sollte ich so schnell wie möglich ablegen, hatte mich eine Freundin gewarnt, als ich – noch vor der zweiten Corona-Welle – aufbrach in den Harz. Ich komme aus dem Allgäu, bin auf über 800 Meter aufgewachsen und fand es deshalb etwas amüsant, dass mein Hotel auf seiner Website thh622.de offenbar die 622 Höhenmeter, auf denen es lag, für sehr bemerkenswert hielt. Mir schienen sie eher subalpin.
Harz. Brocken. Worte, die ich nur aus dem Erdkundeunterricht kannte. Klang irgendwie hart. Erbarmungslos. Und gleichzeitig, so paradox es sein mag, etwas niedlich. Der kleine dicke Bruder der echten Berge. Mittelgebirge. Ha!
Aber mit der Mitte ist es ja so eine Sache. Klar, man kann sie langweilig finden im Gegensatz zu den Extremen. Man kann sie aber auch mal erholsam finden. Angenehm. Ausgewogen. Und nach ein paar Tagen im Harz kann ich sagen: Selten so ausgeglichen von einer Auszeit zurückgekommen.
Schon die serpentinige Fahrt vom Bahnhof in Bad Harzburg mit dem Auto hoch nach Braunlage wiegt mich in wohltuende Geruhsamkeit. In Braunlage, einem kleinen Ort, der mit seinen Souvenirshops und der Gondelstation den typischen Charme eines zweimal im Jahr gut besuchten Touristen-Ausgangspunktes versprüht, geht es noch einmal ein paar Kurven weiter hoch, immer den Schildern „Barmer“ folgend. Wie bitte? Ist das nicht die Versicherung?
Wo jetzt The Hearts Hotel auf mich wartet, war bis vor Kurzem noch das Schulungszentrum der Barmer. Und irgendwie passt das sogar, weil das Hotel versucht, den Harz für erschöpfte, anspruchsvolle, urbane Touristen anschlussfähig zu machen. Man könnte sich natürlich keinen unglamouröseren Ort vorstellen als das Schulungszentrum einer Krankenversicherung. Aber genau darum geht es ja hier. Aus dem etwas Piefigen etwas Neues zu machen.
Vier Gebäude gibt es, jedes ist sowohl von außen als auch von innen anders. Mein Zimmer ist in Haus 2, der sogenannten Villa. Es ist das einzige Haus, das von außen nicht nach Versicherung aussieht, sondern dem Namen alle Ehre macht: ein fast 100 Jahre altes, großes Haus mit vier Stockwerken, unten aus Stein, oben mit Holz verkleidet. Hier befindet sich auch die Rezeption sowie die Bar, die sich im Verlauf der kommenden Tage noch als sehr gut herausstellen wird.
Gefrühstückt und zu Abend gegessen wird in einem extra Haus, das durch einen verglasten Durchgang wiederum mit einem weiteren Gebäude verbunden ist. In diesem Durchgang stehen Sessel und Sofas, stilistisch zusammengewürfelt und dennoch aufeinander abgestimmt, daneben stapeln sich Bildbände auf Beistelltischen. Vielleicht ist hier das Gefühl am stärksten, auf das es das Hearts Hotel abgesehen hat: das Gefühl, in einer sehr luxuriösen WG gelandet zu sein.
Im Sommer kann man natürlich auch draußen essen, auf der großen Wiese stehen dann Liegestühle und ein Tisch, an dem gut 20 Gäste Platz haben. Aber auch drinnen schmeckt das Spanferkel mit selbst gemachter Käse-Chili-Soße und Kartoffelstampf köstlich. In der Bar gibt es einen hervorragenden Negroni. Wie alle anderen Räume sind auch Restaurant und Bar in dieser bestimmten Mischung aus rustikal-heimelig und industriell-stählern eingerichtet. Schwere Holztische und Bauhaus-Lampen, das ist hier der Vibe.
Im Herbst 2019 haben Meik Lindberg und sein Geschäftspartner Ralph Hesse das Hotel aufgemacht, als Pop-up-Hotel, unkompliziert, relativ ungeplant. Daher auch der erste, Start-up-mäßige Name thh622. Noch immer ist nicht alles fertig. Eine zweite Sauna muss noch gebaut werden. Gebäude Nummer vier steht erst zur Renovierung an. Es ist alles im Werden, aber das gehört gewissermaßen zum Prinzip: neue Ideen entwickeln und mal sehen, ob das klappt. Wie die mit den beiden alten VW-Bussen, die sie restauriert haben und die man nun mieten kann. Tagsüber kann man damit durch den Harz tuckern, am Abend parkt man wieder am Hotel, wo man im Bulli übernachtet – aber natürlich ein Badezimmer, Frühstück und alle anderen Annehmlichkeiten des Hotels genießt. Ob das ankommt? Keine Ahnung, sagt Lindberg, aber warum nicht ausprobieren?
Lindberg kommt eigentlich aus der IT-Branche und ist nach einigen Jahren in der weiten Welt wieder in den Harz zurückgekehrt. Seine Partnerin Tanja Westphal kümmert sich um die Einrichtung, jede Lampe, jeder Garderobenhaken wurde von ihr ausgewählt, auf Flohmärkten erstanden und aus Wühlkisten gezogen. Chic gemacht werden die Vintage-Möbel dann vom Facility-Manager, der früher mal Tischler war, und, voilà, jedes Zimmer bekommt so eine individuelle Einrichtung.
Schon am Grundriss merkt man, dass die Räume ursprünglich nicht als Hotelzimmer konzipiert waren. So steht in meinem Zimmer das Waschbecken aus Platzgründen nicht im Bad, sondern neben dem Bett. Dafür gibt es eine Badewanne, in die ich mich jeden Abend lege, nachdem ich eine mittelanstrengende Wanderung oder einen leichten Waldspaziergang hinter mir habe. Der Blick geht gerade raus durchs geöffnete Fenster auf die Tannenwipfel der umliegenden Hügel. 622 Meter, das ist, so wird mir klar, die ideale Höhe, um es weder zu über- noch zu untertreiben. Um weder zu viel noch zu wenig zu machen. Um zu verstehen: Es muss nicht immer der höchste Gipfel sein. Ist ja auch viel zu anstrengend. Beizeiten kann Mittelmaß viel angenehmer sein. Solange sich das, wie hier, nur auf die Höhe bezieht.